Anfang // Themen// Leitfaden für Villinger Schemenschnitzer, 2016
 

 


Leitfaden für Villinger Schemenschnitzer, 2016
- Entwurf : Traugott Wöhrlin, November 2016


Lieber Villinger Schemenschnitzer,
Sie schnitzen seit Jahren Villinger Schemen oder haben vielleicht erst vor kurzem damit angefangen. Sie sind mit Ihrer seitherigen Arbeit zufrieden oder wollen sie vielleicht noch verbessern. Sie vergleichen Ihre Produkte mit denen Ihrer Kollegen und suchen nach Beurteilungskriterien, die für alle gelten.
Haben Sie sich dabei schon einmal darüber Gedanken gemacht, in welchem Zusammenhang Ihre Arbeit steht, wofür Sie tätig sind und wie sich die Villinger Schemen, das Ziel Ihrer Arbeit, von den zahllosen anderen Larven der kaum mehr überschaubaren südwestdeutschen Fasnachtslandschaft unterscheiden?
Dass unsere Villinger Schemenkultur in der Schwäbisch-Alemannischen Fasnacht und darüber hinaus einen ganz besonderen Rang einnimmt, ist unumstritten. Weniger klar ist allerdings die Frage, wie dieser besondere Rang begründet ist und worin die Einmaligkeit unserer Schemenkultur besteht. Für einen Villinger Schemenschnitzer ist es unerlässlich, sich gerade mit dieser Frage auseinander zu setzen, nicht nur dann, wenn er sich auch noch mit der Gestaltung anderer Larven befasst, die nicht in den Villinger Rahmen passen müssen.
Dieser kleine Leitfaden will dazu beitragen, unseren Schemenschnitzern, also Ihnen, die Besonderheiten und Hintergründe unserer Villinger Schemenkultur wieder einmal bewusst zu machen und dabei nicht nur die nötigen Informationen zu liefern, sondern auch Hilfestellung und Anregungen für die eigene Gestaltungsarbeit und für Diskussionen mit Ihren Kollegen zu bieten.


1. Eine aktuelle Zustandsbeschreibung


Im Erscheinungsbild unserer Villinger Fasnacht hat sich im Verlauf der letzten Jahre und Jahrzehnte vieles verändert. Damit sind nicht nur die neuen Zünfte, Gruppen und Figuren gemeint, die längst zu festen Bestandteilen unserer in-zwischen vielfältigen Villinger Fasnacht geworden sind.
Auch unsere überlieferte historische Fasnacht mit ihren traditionellen Maschgere-Figuren hat ihr Gesicht verändert. Das vor fünf oder sechs Jahrzehnten noch überschaubare bürgerliche Fest des städtischen Narrentreibens hat sich zu einem kaum mehr übersehbaren Massenevent gewandelt, bei dem sich immer mehr Teilnehmer nur noch als Beteiligte eines Schaulaufens verstehen und sich ihrer eigentlichen Rolle als Akteure eines städtisch-fasnächtlichen Theaterfestes nicht mehr bewusst sind.
Es ist müßig, diesen Wandel zu beklagen, weil er ein getreues Abbild unseres Zeitgeistes ist. Wir sollten uns vielmehr über das offenbar stetig wachsende Interesse freuen, das immer mehr Villinger Bürger unserem historischen Erbe entgegen bringen, auch wenn sie es noch nicht oder nicht mehr in allen Detail-zusammenhängen verstehen wie es früher einmal in dem engen und über-schaubaren traditionskundigen Kreis der Alteingesessenen selbstverständlich war.
Zu einem ernsten Problem wird es allerdings, wenn bei dieser Entwicklung aus Mangel an Vertrautheit mit dem Überlieferten auch das äußere Erscheinungsbild unseres alten Erbes verzerrt oder verfälscht wird. Neben der aktiven Wachsamkeit unseres traditionsbewussten Bürgertums ist hier vor allem die regelnde Hand der Villinger Narrozunft als Steuerungsinstrument gefragt. Ihre wichtigsten Helfer und Gesprächspartner sind dabei die Kostüm- oder Häss-chneiderinnen, die Häsmaler und Haubenmacherinnen, vor allem aber die Schemenschnitzer und Fassmaler. Ihre Produkte bestimmen in ihrer Gesamtheit das Erscheinungsbild unserer historischen Fasnacht. Die immer häufiger mit den traditionellen Details weniger vertrauten Kunden müssen sich daher auf das Wissen und die Erfahrung dieser „Experten“ unbedingt verlassen können.
In einer Reihe von Orten mit vergleichbarer Fasnachtskultur hat man versucht, dieses Problem durch Vorschriften bis ins kleinste Detail zu regeln und durch Beschränkungen in den Griff zu bekommen. Dabei wurde allerdings die Gefahr der Erstarrung einer noch lebendigen Tradition übersehen oder bewusst in Kauf genommen. Um dies zu vermeiden, hat man in Villingen bislang auf solche Maßnahmen verzichtet und lieber auf Gespräche mit den Herstellern dieser Traditionsgegenstände gesetzt. Wegen des herausragenden Ranges unserer Villinger Schemenkultur waren und sind dabei die Gespräche mit den Schemenschnitzern von ganz besonderer Bedeutung.
Die hier vorliegende Handreichung soll das für diese Gespräche notwendige historische, handwerkliche und gestalterische Grundwissen vermitteln und unseren Schemenschnitzern das hohe Maß ihrer Verantwortung bewusst machen.


2. Geschichte und Zusammenspiel der Villinger Schemen


Haben Sie sich als Schemenschnitzer schon einmal die Frage gestellt, ob und wie unsere verschiedenen Schementypen miteinander in Beziehung stehen? Oder haben Sie bislang einfach die Existenz von Narro, Surhebel, Morbili und Altvillingerin ohne Nachfrage als gegeben hingenommen?
Als Schemenschnitzer in Villingen stehen Sie jedenfalls bei Ihrer Arbeit permanent vor der Frage, was Sie der Tradition schulden, welche individuellen Möglichkeiten und Freiheiten Sie haben und wo die Grenzen liegen. Ohne mit den Wurzeln unserer Schemenkultur wenigstens in groben Zügen vertraut zu sein, werden Sie hier keine befriedigende Antwort finden.
Die Villinger Schemen gehören zu den ältesten der südwestdeutschen Fasnacht überhaupt. Dabei wurden die ersten Exemplare nach dem 30jährigen Krieg – also in der Epoche des frühen Barock – wahrscheinlich nicht als Fasnachtsmasken geschnitzt, sondern als bereits vorhandene Theatermasken aus dem Fundus Villinger Klöster zum Zweck einer närrischen Vermummung entlehnt. Man darf davon ausgehen, dass es dabei weniger um bloßes fasnächtliches Herum-grölen ging als vielmehr um nicht reglementierte lustig derbe Stegreiftheaterszenen in den Straßen als Vorläufer des späteren Strählens. Teufelsmasken wie im benachbarten Rottweil haben dabei in Villingen, soweit man weiß, nie eine Rolle gespielt. Dafür sind neben den fröhlichen barockgesichtigen Narroschemen schon bald die ersten Charakterschemen aufgetaucht, mit denen vermutlich bekannte Villinger Bürger porträtiert und persifliert worden sind. Man kann daraus schließen, dass als Anregung für die kleinen Stegreifszenen das Wiener Hanswursttheater gedient hat, das seinerseits aus der italienischen „commedia dell’arte“ hervorgegangen ist und in allen vorderösterreichischen Städten wenigstens in den Grundzügen bekannt war. Dass die Hauptfigur dieses städtischen Fasnachtstheaters dabei den Namen „Hansel“ bekam, spricht für die Wahrscheinlichkeit dieser Entstehungszusammenhänge. Neben dem Hansel bzw. Narro als Hauptfigur dieses Fasnachtstheaters spielte der Surhe-bel und das Morbili lange Zeit nur eine Nebenrolle, weil diese beiden beim Strählen nur da sinnvoll waren, wo sie als Konterfei eines bekannten Villinger Bürgers bzw. Bürgerin erkennbar waren und schauspielerisch aktiv werden konnten. Wegen ihrer auffallenden Ähnlichkeit mit antiken Theatermasken zeigt die älteste Villinger Morbilischeme aus der Hand des Ölmüllers Dominik Ackermann um 1820 aber auch, dass man das Strählen immer als eine Art Theaterspiel verstanden hat.
Die Zahl der Charakterschemen war allerdings in unserer Stadt bis in die Zeit nach dem ersten Weltkrieg, also bis zu Beginn der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts, sehr gering. Erst mit der Idee von der „Schwäbisch-Alemannischen Fasnacht“ und den dabei neu erfundenen zahlreichen lokalen Larventypen zwischen Rhein und Bodenseeraum wuchs auch in Villingen das Bedürfnis nach
einer Aufwertung unserer Surhebel- und Morbilischemen als Alternative zum Narro. Um auch diesem eine Partnerin in der Villinger Schemenfamilie zu verschaffen, wuchs dabei die Altvillingerin in die Rolle einer Maschgerefigur hinein, sodass auch für sie ein neuer, eigener, mit der Radhaube zu tragender Schementyp notwendig wurde. In größerer Zahl sind diese Altvillingerinnen-Schemen erst nach dem 2. Weltkrieg, also in den 50er Jahren entstanden. Spätestens ab dieser Zeit besteht das Villinger Schemenensemble also aus zwei Paaren: dem Paar der Jungen mit Narro und Altvillingerin und dem Paar der beiden Alten, dem Surhebel und dem Morbili.


3. Zum Charakter und der Eigenart unserer Villinger Schemen

3.1 Die Narroscheme
Sie ist nicht nur die älteste unserer Villinger Schemen, sondern auch die am meisten bewunderte und daher diejenige, der unser Hauptinteresse gelten muss. Bedeutende Bildhauer aus dem 17. vor allem aber dem 18. Jahrhundert haben hier Maßstäbe gesetzt und Schemen geschaffen, die dem jeweils charakteristischen Schönheitsideal ihrer Epoche entsprochen haben: eher pausbäckige Gesichter aus der Barockzeit und schelmisch lächelnde Masken aus dem nachfolgenden Rokoko in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Leider sind diese Ahnen unserer Narroschemen aus dem Bild unserer heutigen Straßenfasnacht bis auf seltene Ausnahmen fast vollständig verschwunden und nur noch in Museen oder privaten Sammlungen zu finden.
Ihren Höhepunkt erreichte unsere Schemenkultur aber erst in der Epoche des Klassizismus mit den Arbeiten des Bildhauers Dominik Ackermann ( Ölmüller, 1779-1836), der sich ebenso wie die großen Europäischen Künstler jener Zeit am klassischen bzw. klassizistischen Schönheitsideal orientierte. Vor allem die spätesten seiner Narroschemen zeichnen sich durch eine edle Gesichtsästhetik aus, die in ihrer alterslosen Harmonie weder männliche noch weibliche Züge aufweist, nicht lächelt oder sonstige Gemütsregungen zeigt und weder sprechend noch stumm ist, sondern einfach nur „schön“. Gerade durch diese gezielt-harmonische Ausdruckslosigkeit gewinnt diese Scheme in ihrer Vollendung einen rätselhaften Nimbus, der dem Schnitzer das Höchste an Konzentration und Beobachtungsgabe abverlangt. In der gesamten schwäbisch alemannischen Fasnacht gibt es keine Larve, die an die Ästhetik dieser Schemen heranreicht.
Da auch die unmittelbaren Nachfolger des Ölmüller, der Bildhauer Josef Ummenhofer („Bregel“, 1813-1891) und Wilhelm Sieber (1851-1899)mit ihren Arbeiten genau diese Linie weiterverfolgt und Stücke von gleicher ästhetischer Vollkommenheit geschaffen haben, war damit der Typus der Villinger Narroscheme als Maßstab festgelegt. Er gilt bis heute, wobei es keinesfalls darum geht, diese klassischen Villinger Schemenideale einfach zu kopieren, sondern darum, sich mit eigenen Arbeiten an ihrer zeitlosen Ästhetik zu orientieren und zu messen. Wer sich schon mit dieser Aufgabe befasst hat, der weiß, dass es in der Villinger Schemenschnitzerei nichts gibt, was anspruchsvoller wäre, und dass diese scheinbar einfachen Narroschemen in Wahrheit die größte Herausforderung darstellen.
Gestaltungshilfen für Narroschemen
Da die beschriebenen Vorbilder als Originale aus dem 19. Jahrhundert heute nur noch selten in der Öffentlichkeit zu sehen sind, ist es meist schwer, sich Zugang zu solchen Stücke zu verschaffen. Das ist aber kein Hindernis, denn es gibt genügend hervorragende detailgenaue Fotos von diesen Villinger Klassikern aus fast jeder Perspektive. Außerdem kann sich die Verfügbarkeit eines abgreifbaren Modells sogar als Nachteil erweisen, weil die Versuchung sehr groß ist, dieses einfach zu kopieren.
Davon ist aber dringend abzuraten!
Begründung: Die Erfahrung zeigt, dass sich der Kopierer automatisch und unbewusst viel zu sehr auf die zweifellos wichtigen und interessanten Details konzentriert und zu wenig auf deren harmonisches Zusammenspiel achtet. Genau dort aber liegt das Geheimnis der klassischen Villinger Narroschemen-Ästhetik. Um dieses zu entschlüsseln, ist es sehr viel besser, Vorbilder sorgfältig und wo möglich auch wiederholt zu studieren und sie nicht als Kopiervorlage sondern als Anregung und Vergleichsmaßstab zu betrachten. Schließlich muss es jedem Schemenschnitzer darum gehen, seine eigene Narroscheme und nicht einen Pseudo- Ölmüller oder Pseudo-Sieber zu erschaffen. Die Faszination und der Ruf unserer Villinger Schemenkultur liegt gerade bei den Narroschemen nicht in ihrer Gleichförmigkeit sondern in der Verschiedenheit, dem ästhetischen Ideal unserer großen Vorbilder nahe zu kommen. Sie sind keine Massen- und Serienprodukte sondern individuelle Ergebnisse der Bemühungen unserer Schemenschnitzer, sich mit dem Ideal dieses Schementyps auseinander zu setzen.
Dieses Bemühen wird von jedem Schemenschnitzer erwartet als sein Anteil an der Pflege unserer Tradition.
Übrigens: Auch die direkten Nachfolger des Ölmüller haben dessen Arbeiten nicht kopiert, sondern nur seine ästhetischen Prinzipien nachempfunden und weiter entwickelt. Ebenso wie sich alle bekannten Ölmüllerschemen voneinander unterscheiden, sind auch alle Bregel- und Sieberschemen verschieden.


Technische und gestalterische Hilfen:
1. Eine wesentliche Eigenschaft unserer Narroschemen ist ihre absolute Symmetrie, ein ästhetisches Merkmal, das nur bei Masken vorhanden ist, bei natürlichen Gesichtern aber nie. Es ist sehr schwer, diese Symmetrie beim Schnitzen einzuhalten. Wenn man den Holzblock für die Scheme aus zwei Hälften mit absolut gleicher, wenn möglich spiegelbildlicher Holzstruktur zusammenleimt, kann die hauchdünne Linie der Leimfuge als willkommene Symmetrieachse zur Orientierung dienen. Grundbedingung ist eine völlig einwandfreie Verleimung mit wasserfestem alterungsbeständigem Leim und tadelloser Leimfläche. Vorschriften, wonach Verleimungen bei Schemen grundsätzlich abzulehnen sind, stammen aus der Zeit der wasserempfindlichen Leime und haben heute keine Berechtigung mehr, weil sie bei handwerklich korrekter Ausführung keinerlei Wertminderung darstellen.
Selbstverständlich gibt es auch andere Methoden zur Überprüfung der Symmetrie, und im Zweifel ist ein homogener Holzklotz als Rohling immer die erste Wahl.
2. Wo eine als Modell geeignete Scheme zur Verfügung steht, spricht nichts dagegen, dort die Hauptmaße für die Gesichtseinteilung abzugreifen. Bei historischen Schemen (auch Ölmüller, Bregel und Sieber) ist zu beachten, dass früher die Gesichter und Köpfe der Menschen etwas kleiner waren als heute und Umrechnungen also notwendig sein können. Gleiches gilt in jedem Fall für Kinderschemen, die ohnehin völlig andere Gesichtsproportionen haben.
Sofern Sie Narroschemen als Auftragsarbeit für bestimmte Kunden schnitzen, achten Sie bitte darauf, dass Schemengröße und Statur des Trägers zusammen-passen sollen. Große Personen (1,80 m und mehr) werden mit einer kleinen Scheme ( etwa einem frühen „Ölmüller“ von nur 25 cm Gesamthöhe) zu unpro-portionierten Riesen, ebenso, wie sich kleinere Personen (1,70 m und weniger) mit zu großen Schemen in missgestaltete Zwerge verwandeln. Machen Sie Ihre Kunden auf diese Zusammenhänge aufmerksam für den Fall, dass diese ihre Scheme an andere Personen ausleihen oder weitergeben.
3. Beachten Sie bei den Augen, dass diese schön gewölbt in der Augenhöhle des Schädels sitzen. Anfänger haben damit oft Mühe und neigen dazu, die Augenöffnungen wie Knopflöcher auszubilden. Genaue Detailstudien am eigenen Kopf im Spiegel oder auch auf Fotos von „Cover-Girls“ auf Illustrierten können hier manchmal hilfreich sein. Denken Sie daran, dass Schemen dreidimensionale Gebilde sind und nicht nur frontal oder im Profil, sondern sehr viel öfter auch im Halbprofil betrachtet werden und wirken müssen.
4. Achten Sie auf ausgewogene Form und Proportion von Ober- und Unterlippe. Bei einem ästhetischen Mund ragt die Unterlippe niemals seitlich über die Oberlippe hinaus. Es ist eher umgekehrt. Hier braucht man viel Fingerspitzengefühl, und ein Blick auf die Frauenbildnisse des Leonardo da Vinci kann auch nicht schaden. Der hatte ähnliche Schönheitsideale wie der Ölmüller.
5. Fügen Sie die Wangengrübchen nicht als harte Dellen ein sondern formen sie diese länglich oval und sehr weich.
6. Auch die Stirnpartie über den Augen ist bei einem schönen Gesicht leicht modelliert. Entdecken Sie selbst, auf welche Weise.
Wer es nicht selbst schon erfahren hat, wird überrascht sein, wie anspruchsvoll und spannend die diffizile Auseinandersetzung mit der besonderen Ästhetik der Villinger Narroschemen sein kann.
Mit der simplen Produktion von Fasnachtslarven hat sie rein gar nichts zu tun.


3.2 Surhebelschemen
Während die Villinger Narroschemen von Anfang an das Wesen des schönen aber noch charakterlosen Jugendlichen repräsentierten, verstand man schon die allerersten Villinger Surhebel nicht in erster Linie als hässliche Gesichter, sondern eher als ältere und daher vom Leben geprägte Charakterköpfe und damit als Repräsentanten des städtischen Bürgertums, die in persifflierender oder karikierender Weise in das Theaterspiel einbezogen werden sollten.
(Im Franziskanermuseum unserer Stadt hängt eine solche Scheme aus der Werkstatt der Schupp-Familie).
Mit abstoßenden Typen oder gar mit Teufels- oder Totenmasken wie in Elzach oder vielen anderen Narrenorten hatten sie nie etwas zu tun. Sie verkörperten vielmehr das, was in den schönen Gesichtern der Narroschemen fehlt, nämlich Lebenserfahrung, Altersspuren und all das, was man Charakter nennen kann: Besserwisserei, Sorge, Lebensunlust, Ironie, Hinterlist und Spott, Angebertum, Nörgelei, Unzufriedenheit und viele andere menschliche Eigenschaften mehr, die mit dem Begriff „Surhebel“ (Sauerkopf oder Sauerteig) gemeint sein können. Porträtmasken waren sie immer, wobei es im Laufe der Entwicklung zu¬nehmend weniger darauf ankam, eine bestimmte Person wiedererkennbar in einer Scheme abzubilden, als vielmehr das Charaktertypische herauszustellen. Weil das Strählen mit sehr unfreundlichen oder gar abstoßenden Charaktergesichtern hohe schauspielerische Qualitäten voraussetzt, ist mit dem vermehrten Anteil von Hästrägern ohne Kenntnis unserer Tradition auch die Nachfrage nach Surhebelschemen mit verbindlicherem Gesichtsausdruck angestiegen. Zu den früher überwiegend griesgrämig- missmutigen Surhebelcharakteren sind also seit rund einem halben Jahrhundert noch eher spöttisch-ironisch oder hintergründig-überheblich lächelnde Typen hinzugekommen, womit das Charakterspektrum unserer Surhebel nicht grundsätzlich verändert, sondern nur erweitert wurde. Fröhlich lächelnde oder lachende sowie völlig ausdruckslose nichtssagende Physiognomien sind allerdings mit dem Begriff „Surhebel“ nicht vereinbar und sollten daher unbedingt vermieden werden, auch wenn sie als Porträt mit einer bestimmten Person identifizierbar sein mögen. Natürlich gibt es hier Grenzfälle, die ein Schemenschnitzer verantwortungsbewusst selbst entscheiden muss.
Für alle Charakterschemen gilt: Sie müssen hinsichtlich Augensitz usw. tragtauglich sein. Außerdem müssen sie sprechen können, also einen mindestens leicht geöffneten kommunikationsbereiten Mund haben.


3.3 Morbilischemen
Wenn von unübersehbaren Veränderungen im optischen Erscheinungsbild unserer historischen Villinger Fasnacht die Rede ist, betrifft das in ganz besonderem Maße die Morbili-Maschgere. Ihre Zahl hat sich im Vergleich zu allen anderen Figuren am heftigsten vermehrt, was allein schon problematisch genug ist, weil der Narro als Hauptfigur unserer Fasnacht vor dieser wachsenden Übermacht immer mehr an Präsenz verliert. Bedenklich wird diese Entwicklung aber, wenn auch das gestalterische Niveau unserer Morbilischemen zusammen mit dieser Vermehrung leidet und dramatisch sinkt. Dabei geht es vor allem um eine Frage, die sich offensichtlich manche Schemenschnitzer noch gar nie gestellt haben: Wer oder was ist eigentlich ein Morbili und wie zeigt sich ihr Wesen in ihrer Scheme ?
Ein serienmäßiges Gesicht mit stereotyp lächelndem Mund, einem einsamen Zahn und der obligatorischen Warze am Kinn ist jedenfalls noch lange kein Morbili, schon gar nicht, wenn es als Teil gleichartig identitätsloser Gebilde auftritt. Solche Larven sind eher Verhöhnungen unserer früher einmal hintergründig wissenden und ausdrucksvoll-individuellen Altweiberschemen, denen man den liebevollen Namen „Morbili“ gegeben hat. Allein in diesem Namen, in dem das Wort „mürbe“ mitschwingt, steckt bereits die ganze Fülle großmütterlicher oder tantenhafter Charaktereigenschaften. Sie reichen vom altersweisen verständnisvollen Humor über pfiffige Geschwätzigkeit und Gouvernantenge-habe bis zum schnippischen Lästermaul. Die Bandbreite morbilihafter Charaktereigenschaften ist enorm. Wenigstens eine davon – verbunden mit dem Ausdruck lebenserfahrener Weiblichkeit – sollte in einer Morbilischeme vorhanden sein. Absolut unvereinbar mit ihr ist stereotype Ausdruckslosigkeit sowie alles, was mit „Hexe“ oder vergleichbaren Wesen zu tun hat.
Es ist zugegebenermaßen nicht einfach, solche Charaktertypen einzufangen und als Scheme zu gestalten. Eine wache Beobachtungsgabe und wenigstens ungefähre Kenntnis der anatomisch-mimischen Zusammenhänge sind unerlässlich. Aber selbst da, wo diese Voraussetzungen noch nicht vorhanden sind, kann allein das Bemühen darum als Vorbereitung für den Entwurf und die spätere Ausführung einer Morbilischeme ein äußerst lustvolles und erkenntnisreiches Erlebnis sein oder werden. An Vorbildern mangelt es nicht, selbst wenn solche in Ihrer nächsten Umgebung fehlen. In unserer vielfältigen Medienlandschaft gibt es genug davon. Kleine Skizzen oder Modellstudien helfen Ihnen bei der Umsetzung. Dabei kommt es nicht einmal so sehr auf die bildhauerische Perfektion an (auch wenn diese erwünscht ist), als vielmehr auf die Originalität.
Als Villinger Schemenschnitzer sollte man sich jedenfalls zu schade sein, um die Massenflut ausdruckslos-serienhafter Billigschemen mit der Bezeichnung „Morbili“ zu vermehren, auch dann, wenn die Nachfrage danach groß sein mag. Denken Sie an Ihre Verantwortung und daran, dass auch in jüngster Zeit hervorragende Morbili-Charakterschemen selbst aus der Hand junger Nachwuchs-schnitzer entstanden sind, die als Orientierung oder Maßstab taugen.


3.4 Schemen für die „Altvillingerin“
Als jüngste unserer Villinger Schemen hat sie noch keine eigene Tradition, denn ihre Vorläufer, die behelfsmäßigen Larven aus Pappmaschee oder feiner Drahtgaze aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg, taugen als historische Vorbilder nicht.
Als Partner des Narro orientiert sich ihr Gesicht an dessen schöner Scheme, in der man, wenn man will, ja auch weibliche Züge erkennen kann. Es wäre aber schade, wenn man die Altvillingerinnen-Scheme nur als zurechtgesägte Narroscheme begreifen wollte, denn sie bietet ja eine willkommene Gelegenheit, schöne Frauengesichter abzubilden oder nachzuformen, wie man sie sich als stolzer Narro wünschen mag. Bilder aus der Regenbogenpresse bieten dazu genügend Vorlagen., vielleicht auch solche aus dem eigenen Familienalbum.
Und natürlich sollten die Trägerinnen selbst auch über ihr Aussehen als Altvillingerin mitbestimmen können.
Das Problem dieser Schemen ist, dass sich ihr Innenraum so gut wie möglich an das Gesicht der Trägerin und deren Radhaube anpassen muss. Allzu viel Spielraum hat man da nicht, und wenigstens ungefähres Maßnehmen ist zu empfehlen.
Die Zahl dieser Schemen ist bislang noch nicht sehr groß, aber es wäre spannend, einmal alle im Rahmen eines Schönheitswettbewerbes versammelt zu sehen. Vielleicht ergäbe das Anregungen für die Weiterentwicklung dieses Schemenideals.


4. Schemenschnitzergespräche


Als Villinger Schemenschnitzer stehen Sie mit Ihrer Arbeit selbstverständlich im Wettbewerb zu den anderen Schnitzern. Das gilt für den handwerklichen Aspekt ebenso wie für gestalterische Fragen und die Beziehung Ihrer Arbeit zur besonderen Villinger Schementradition. Dieser Wettbewerb ist von großer Bedeutung für die Fortdauer und das Niveau unserer alten Schemenkultur. Er wird nur da bedenklich und fragwürdig, wo er zum negativen Konkurrenzdenken entartet und zur Abschottung Einzelner gegenüber den Anderen.
Zum Problem wird es auch da, wo Schemen ihre Zweckbindung an unsere Maschgerefasnacht verlieren und zu reinen Sammler- oder Spekulationsobjekten werden. Als Schemenschnitzer haben Sie zwar nicht immer die Möglichkeit, dies zu verhindern. Aber es ist gut, wenn Sie sich dieses zunehmenden Missbrauchs bewusst sind, um ihn wo immer möglich zu bremsen.
Ein reger Gedankenaustausch unserer Schemenschnitzer untereinander ist also unverzichtbar, denn nur auf diesem Weg können Erfahrungen, Meinungen und Kenntnisse ausgetauscht, diskutiert, bestätigt oder infrage gestellt und weiter gegeben werden. Wie Sie wissen, versucht die Villinger Narrozunft seit Jahren, diesen Austausch über die Schemenschnitzerabende zu befördern. Aber die in diesem Leitfaden beschriebenen Probleme zeigen, dass Sie als Schemenschnit-zer eigentlich eine noch viel größere Verantwortung tragen, als Ihnen dies an einem einzigen Abend im Jahr bewusst gemacht werden kann. Gerade weil wir in Villingen auf eine allzu enge Gängelung unserer Schnitzer verzichten wollen, ist es notwendig, die gemeinsame Bindung aller an ein und dieselbe Aufgabe immer wieder zu betonen, ohne Ihren Freiraum als Schnitzer einzuschränken. Es ist daher sehr wünschenswert, wenn die bereits bestehenden Kontakte unter Ihnen weiter ausgebaut und intensiviert werden. Wenn Sie also Möglichkeiten und Gelegenheiten für Villinger Schemenschnitzergespräche sehen, so zögern Sie nicht, diese zu nutzen und zu intensivieren. Die in diesem Leitfaden beschriebenen Charakterisierungen unserer Villinger Schemen und die angesprochenen problematischen Entwicklungen könnten Anregung für solche Gespräche sein.


Textüberarbeitung April 2018
T.W.